Viele erleben massiven Stress am Arbeitsplatz. Wir wissen, er macht uns krank. Dennoch ist mentale Gesundheit am Arbeitsplatz immer noch ein Tabu-Thema...
In unserem Alltag sind wir mit zahlreichen Stressfaktoren konfrontiert. Die technischen Möglichkeiten, jederzeit erreichbar zu sein, erschweren die Situation zusätzlich.
Gesellschaft und Technik werden immer komplexer, unser Gehirn jedoch funktioniert immer noch wie vor Millionen von Jahren: "Oh-oh, da kommt ein Säbelzahntiger. Ist er gefährlich für mich, oder bin ich stärker und kann ihn besiegen? Mmh, lass' mich nachdenken: Er ist ausgewachsen, viiiel größer als ich, sieht hungrig aus... UND hat mich soeben entdeckt. Mitteilung an die Amygdala im Großhirn: GEFAHR!"
Wie reagiert der Körper auf Stress?
Die Amygdala, der sog. Mandelkern, verarbeitet externe Impulse und leitet Reaktionen des vegetativen Nervensystems ein - in einer Gefahrensituation wird eine Stressreaktion ausgelöst. Diese mobilisiert den Körper, um der Gefahr zu entkommen. An sich ein wunderbarer Mechanismus!
Kurzfristig führt die Stressreaktion u.a. zu einer Ausschüttung von Adrenalin: Im besten Fall schaffen wir es, dem Säbelzahntiger zu entkommen. Wenn aber der Stress anhält (die e-mails konstant die Mailbox überfluten, man schon nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht, und das Leben oder der Berufsalltag noch weitere Herausforderungen mit sich bringt), steht der Körper unter einer höchst ungesunden Dauer-Stress-Belastung.
Im Unterschied zur kurzfristigen Mobilisierung bringt diese Dauerbelastung - neben der konstanten Belastung für den Körper - auch eine Veränderung im Hormonhaushalt mit sich. Das Gleichgewicht wird dauerhaft gestört und verändert: Das Stresshormon Kortisol wird ausgeschüttet, Serotonin, Dopamin und Melatonin reduziert.
Diese Veränderung im Hormonhaushalt begünstigt die Entstehung von physischen und psychischen (mentalen) Erkrankungen.
Krank durch Stress
Studien haben gezeigt, dass Arbeit keineswegs krank macht. Die Belastung durch Dauer-Stress sehr wohl. Die klassischen psychischen Erkrankungen, die durch Stress ausgelöst oder begünstigt werden können, sind Burn Out, Depression, Ängste und Panikattacken. 30% aller Männer (in Österreich), die im Berufsleben stehen, sind durch permanenten Stress belastet, bei Frauen liegt die Zahl sogar bei 37%.
In einer österreichweiten Erhebung zum Burn Out wurde 2019 festgestellt, dass
19% aller Berufstätigen in einem frühen Stadium der Burn Out-Störung sind (Stadium I),
17% bereits in einem Übergangsstadium (Stadium II) und
8% schließlich krank sind (Stadium III). In Stadium III leiden die Erkrankten unter völliger Erschöpfung, Arbeitsunfähigkeit und Depressionen. Die Beziehungen leiden unter der Störung, die Erkrankten ziehen sich zurück, der Teufelskreis dreht sich.
2019 hat die Weltgesundheitsbehörde WHO das Burn Out offiziell in die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) aufgenommen, das neue ICD 11 soll im Jänner 2022 in Kraft treten. Damit haben jahrzehntelange Diskussionen von Fachexperten, ob Burn Out eine Krankheit sei, vorläufig ein Ende gefunden.
Am Ende, isoliert und unter Druck
Burn Out-Erkrankte leiden unter völliger Erschöpfung, die nicht mehr durch kurzzeitige Erholung oder ausreichend Schlaf zu beheben ist. Sie erleben eine innere Leere und Antriebs-/Sinnlosigkeit, Stimmungsschwankungen und Niedergeschlagenheit bis hin zur tiefsten Verzweiflung. Sie sind ängstlich, gehetzt, angespannt und haben mitunter auch das Gefühl, "völlig neben sich zu stehen". Zudem können Schlafstörungen, Konzentrationsschwächen und Gereiztheit auftreten.
Damit steht die Burn Out-Erkrankung in starkem Zusammenhang mit der Erkrankung durch Depression und Ängste - die Symptome sind ähnlich bzw. überschneiden einander.
Auch körperlich kann sich ein Burn Out zeigen: Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Tinnitus, Rückenschmerzen, Zittern, Verdauungsprobleme und Hauterkrankungen zeigen, dass die Ressourcen des Körpers erschöpft sind.
Da der Prozess in ein Burn Out hinein oft schleichend geschieht, fallen mögliche Änderungen im Verhalten der Erkrankten auch erst mit der Zeit auf: Burn Out-Erkrankte nehmen soziale Kontakte als Belastung wahr, die Interaktion mit Kunden oder Kollegen werden als Stress erlebt. Obwohl soziale Kontakte grundsätzlich gut tun, werden diese Sozialkontakte zunehmend als lästig und (über)fordernd erlebt. Viele Erkrankte werden schnippisch, ironisch oder zynisch, um sich ein Ventil für die Belastung zu schaffen und auf emotionale Distanz zu gehen. Diese Verhaltensweisen wiederum belasten die Beziehungen, auf lange Sicht gesehen ziehen sich Burn Out-Erkrankte zudem zurück oder vereinsamen zusehends.
Oftmals schildern erkrankte Betroffene auch eine hohe Belastung durch den Druck, bald wieder gesund und arbeitsfähig zu sein. Der körperliche Zusammenbruch hat sich über einen langen Zeitraum abgezeichnet (obwohl dies in den seltensten Fällen bewusst so wahrgenommen wurde), die wirkliche Gesundung dauert oft ähnlich lang.
Arbeitgeber, Freunde oder Familienmitglieder und die Gesellschaft können oft nur schwer die Geduld (und das Verständnis) aufbringen, bis ein Erkrankter wieder völlig gesund ist.
“Bin ich ein Versager, weil ich nicht Schritt halten und keine Kraft mehr aufbringen kann? Werde ich meinen Job verlieren? Wie soll ich meine Existenz sichern, wie jemals wieder gesund werden?”
Selbst ein wochenlanger Reha-Aufenthalt ist oft überschattet von Existenzängsten, Selbstzweifeln und den Sorgen, im Berufsleben nicht mehr Fuss fassen zu können. Die vermeintliche Erholung bringt somit weitere Stressfaktoren mit sich.
In Einzelfällen sind Betroffene so verzweifelt, dass Selbstmord als der einzig mögliche Ausweg scheint.
Bitte kontaktieren Sie bei Selbstmordgedanken umgehend den Sozialpsychiatrischen Notdienst (PSD Wien): 01 31 330, täglich 0-24 Uhr. Hier erhalten Sie psychiatrische Soforthilfe im Krisenfall. Unter https://www.gesundheit.gv.at/leben/suizidpraevention/betroffene/krisentelefonnummern finden Sie weitere Notrufnummern für psychische oder suizidale Krisen.
Mentale Erkrankung am Arbeitsplatz - ein Tabu?
In vielen Unternehmen wächst das Bewusstsein für psychische (mentale) Erkrankungen. Dennoch sind mentale Erkrankungen oft (noch) mit hoher Scham und Sprachlosigkeit besetzt: Wie erzähle ich meinen Kollegen davon? Wie informiere ich meinen Chef? Muss ich dann fürchten, gleich meinen Job zu verlieren, wenn ich nicht genauso leistungsstark bin wie meine Kollegen?
Diese Ängste und die damit verbundene Scham sind verständlich. Sie führen allerdings auch dazu, dass die Betroffenen sich weiter zurückziehen und isolieren (Stichwort Teufelskreis).
Unsere Spiegelneuronen im limbischen System hingegen sorgen dafür, dass wir genau spüren können, wenn ein/e Kolleg/in leidet - auch wenn wir nicht wissen, was los ist: Wir wissen, dass etwas los ist und Gefahr droht.
Wie die Gazellen einer Herde in der Savanne reagieren wir: Eine Gazelle hat den herannahenden Löwen entdeckt, die Amygdala reagiert auf die Gefahr und erzeugt Stress. Über das limbische System im Großhirn nehmen die anderen Gazellen den Stress wahr und reagieren entsprechend - die ganze Herde ist in Panik und rennt um ihr Leben. Auch wenn der ach, so bedrohliche Löwe eigentlich nur zum nächsten Schattenplatz spaziert...
Die Tabuisierung von stress-induzierten Erkrankungen führt also zu nur noch mehr Stress und Angst im Unternehmen. Welchen Sinn würde es da machen, Stress und Angst totzuschweigen?
Was können Sie tun?
Führungskräfte können in einem Unternehmen als Vorbild agieren. In einem internationalen Konzern hatte der CEO den Mut, von seiner Erkrankungen - ausgelöst durch zu viel Stress - zu reden. Er wurde nicht verachtet, für schwach befunden oder belächelt... im Gegenteil!
Die Möglichkeit darüber zu sprechen, erlaubt einen ersten Schritt aus der Erkrankung heraus. Wenn Sie sich in den oben beschriebenen Punkten wiedergefunden haben, tun Sie bitte das Folgende:
Zunächst: Reiben Sie ganz fest Ihre Handflächen aneinander und legen Sie sich dann die gewärmten Hände auf Ihre geschlossenen Augen. Atmen Sie 3-5 Sekunden durch die Nase ein und atmen Sie dann viel länger und hörbar durch den Mund wieder aus. Wiederholen Sie diese Übung ein paar Mal, bis Sie feststellen können, dass sich Ihr Herzschlag verlangsamt hat und Sie sich (etwas) entspannt haben.
Dann: Suchen Sie sich bitte Hilfe! Kontaktieren Sie einen Spezialisten (PsychologIn, PsychotherapeutIn) Ihres Vertrauens, melden Sie sich bei mir (+43 699 10 1403 73) oder bei FONDAVO (+43 660 29 80 509), dem zentrum für gesundheit & entwicklung.
Wenn Sie selbst hingegen nicht betroffen sind, aber sich nicht sicher sind, ob Ihr/e Kollege/in betroffen sein könnten (Sie erinnern sich, in Österreich jede/r Vierte!), unterscheiden Sie sich von den Gazellen und fragen Sie nach: Wie geht's Dir? Gehst Du kurz mit mir spazieren?
Und bitte tun Sie mir einen Gefallen: Wenn Ihr Gegenüber zu reden beginnt, hören Sie zu. Hören Sie zu, auch wenn die Versuchung groß ist, zu erzählen, dass auch Sie dieses Gefühl kennen...
Ich bin gerne für Sie da!
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